Vorgeschichte

 

 

Von Dirk Scheidemantel

Das 300 Seelen Dorf Willingshain ist heute ein modernes Gemeinwesen, daß bis vor einigen Jahrzehnten noch durch Landwirtschaft geprägt wurde. Dieses Bild von einem “verschlafenen”, auf Autarkie besonnenen Dorfes ist natürlich seit langem Geschichte. Die Landwirtschaft besitzt als Einkommensquelle so gut wie keine Bedeutung mehr in Willingshain. Dies zeigt sich natürlich auch in der Architektur. Viele Fachwerkhäuser und gewerbliche Nebengebäude wurden abgerissen bzw. durch Modernisierung stark überformt und einer neuen Nutzung übergeben.. Schmucke Ein- und Mehrfamilienhäuser “von der Stange” prägen heute das Straßenbild, wobei der “Alterswert” Willingshains und seine individuelle Note leider verloren gingen.
Somit ist die evangelische Saalkirche aus dem Jahre 1722 vermutlich als das älteste noch stehende Gebäude Willingshains anzusprechen. 280 Jahre klingen alt, sind es im geschichtlichen Kontext aber nicht. Eine der frühesten Erwähnungen des Dorfes als “Wylandishayn” datiert in das Jahr 1366. Die Nennung steht im Zusammenhang mit einer lehensrechtlichen Vereinbarung zwischen der Abtei Hersfeld und den Herrn von Frylingen. Aus dem für viele Menschen noch heute “finsterem Mittelalter” stammen nun eine ganze Reihe von archäologischen Bodendenkmälern und Funden aus der näheren Umgebung von Willingshain.

Fangen wir nun aber in unser Geschichtserzählung noch früher an und zwar in der älteren Altsteinzeit (Altpaläolithikum). Nicht weit von Willingshain entfernt, in Oberaula-Hausen, liegt auf einer Anhöhe eine Blockquarzitformation. Unsere “Vorfahren” und zwar der Homo erectus formte vor über 200.000 Jahren aus diesem Steinmaterial Werkzeuge (Faustkeile, Schaber usw.) mit denen er eine Vielzahl von Arbeiten ausführte und auf die Jagd (Elefant, Rentier, Riesenhirsch usw.) ging. Die sich in der Abfolge von Warm- und Kaltzeiten herausbildende Flora und Fauna mußte er und die weiteren (Früh)menschen (Neandertaler, Homo sapiens) sich ständig anpassen und neue Überlebensstrategien bilden.

Steinwerkzeuge des Altpaläolothikums von Fundplätzen in Nordhessen

Kommen wir nun zur Jungsteinzeit (Neolithikum, Mitte 6. Jahrtausend bis zirka 2300 v. Chr.). Im Zuge einer Klimaerwärmung um 10.000 v. Chr. änderte der Mensch in einigen hundert Jahren seine Lebens- und Ernährungsgewohnheiten und ging sukzessive vom Jäger- und Sammlertum der Alt- und Mittelsteinzeit zur bäuerlichen Wirtschaftsweise (Viehhaltung, Ackerbau) und Seßhaftigkeit über. Diese in der Geschichte der Menschheit maßgebliche Neuorientierung ging vom Nahen Osten im 10./9. Jahrtausend v. Chr. aus. Mitteleuropa wurde Mitte des 6. Jahrtausend davon erfaßt.

Ein Steinaxtfragment aus dem Kisselbachtal (östlich von Willingshain) eine weitere Axt, zwischen Willingshain und Oberaula gefunden, zeigen nun, daß auch unsere Heimat Funde aus der Jungsteinzeit aufzuweisen hat. Von einer (kontinuierlichen) Besiedlung ab der Bandkeramik (6.-5. Jahrtausend, früheste bäuerlich geprägte Kultur in Deutschland), wie in der Wetterau und um Fritzlar nachgewiesen, kann man bei uns aber nicht sprechen, da die wenigen Funde dafür nicht ausreichend sind. Die Steinaxt von Willingshain datiert wahrscheinlich in das ausgehende Neolithikum (3. Jahrtausend).

 

Ein Steinaxtfragment aus dem Kisselbachtal (östlich von Willingshain) und eine weitere Axt, zwischen Willingshain und Oberaula gefunden, zeigen nun, daß auch unsere Heimat Funde aus der Jungsteinzeit aufzuweisen hat. Von einer (kontinuierlichen) Besiedlung ab der Bandkeramik (6.-5. Jahrtausend, früheste bäuerlich geprägte Kultur in Deutschland), wie in der Wetterau und um Fritzlar nachgewiesen, kann man bei uns aber nicht sprechen, da die wenigen Funde dafür nicht ausreichend sind. Die Steinaxt von Willingshain datiert wahrscheinlich in das ausgehende Neolithikum (3. Jahrtausend).

Hügelgrab aus dem Distrikt "Buchwald" bei Willingshain - Bronzezeit

Gewöhnlich sind die Gräber der Hügelgräberbronzezeit nach einem einheitlichen Schema in Osthessen (Fulda-Werra-Gruppe) aufgebaut. Der/die Verstorbene wurde unverbrannt in einem Sarg auf dem teils gepflasterten Boden niedergelegt. Den Sarg umgab eine Steinpackung. Der Hügel wurde anschließend aus Erde aufgeschüttet und an seinen Rändern mit Trockensteinmäuerchen umgrenzt, um dem Auseinanderfließen des Hügels entgegenzuwirken. Der/die Tote wurde nicht, wie im Christentum üblich, beigabenlos bestattet, sondern abhängig vom sozialen Status mehr oder weniger reich mit geschlechtsspezifischen Beigaben versehen.

Hügel 3 "In der Struth" bei Willingshain Ausgegraben 1922 1-4: Hauptbestattung, 5-7: Nachbestattung

Im Hügel 3 “In der Struth” bei Willingshain fand man im männlichen Hauptgrab zwei Schmuck- bzw. Gewandnadeln, ein Dolch und ein Randbeil, alles aus Bronze. Aus der Nachbestattung stammen eine Radnadel und zwei Armringe.

Zur Frauentracht der mittleren Bronzezeit zählen Gewandnadeln, Gürtelbeschläge, Haar-, Ohr-, Hals-, Arm-, Finger- und Beinschmuck. Da organische Grabbestandteile (Holzsarg, Textilien, Leder usw.) i.d.R. vergangen sind, geben die erhaltenen Totenausstattungen aber nur ein unvollständiges Bild der bronzezeitlichen Bestattungssitten und Tracht wieder. Das bronzezeitlichen Hügelgrab ist üblicherweise nur für die Aufnahme eines Leichnams (Hauptbestattung) vorgesehen. Nachbestattungen, vielleicht Familienangehörige, sind aber immer wieder zu beobachten.

Im Kreis Hersfeld-Rotenburg finden sich viele noch obertägig in den Wäldern erhaltene Hügelgräber. Die bronzezeitlichen Siedlungen dazu fehlen aber vollständig. Vielleicht sind sie der Landwirtschaft (Pflug) zum Opfer gefallen oder wurden bis heute noch nicht entdeckt.

Nach der Hügelgräberbronzezeit bricht nun für Willingshain eine lange historische “Durststrecke” an, da bis zum Hochmittelalter archäologische Funde (z.B. Keramik) und Befunde (z.B. Siedlungsreste) für einen langen Zeitraum fast komplett fehlen.

Im frühen Mittelalter (Karolingerzeit) ging von Hersfeld ein neuer Besiedlungsschub aus. Kirchheim wird bereits im 8. Jahrhundert in einem Güterverzeichnis der Abtei Hersfeld genannt. Ab wann man in Willingshain mit einer Siedlung rechnen kann, ist unbekannt. Die Ersterwähnung 1366 sagt ja nicht aus, daß das Gemeinwesen erst ab diesem Jahr bestand. Wichtig sind nun die zahlreichen mittelalterlichen Bodendenkmäler um Willingshain. Aus ihrer räumlichen Verteilung geht hervor, daß neben den noch heute bestehenden Dörfern der Gemeinde Kirchheim mit weiteren wüstgefallenen (aufgegebenen) Siedlungen des 11.-15. Jahrhunderts gerechnet werden muß. Bekannt ist unter anderem die Wüstung Heiligenborn im Kisselbachtal. Diese wurde 1340 genannt. Im besagten Tal gibt es an mehreren Stellen Hinweise auf Siedlungsplätze und eine gewerbliche Produktion (Töpferei, Eisenverhüttung). Der archäologische Nachweis gelingt durch Funde wie spätmittelalterliche Keramik, Reste der Töpferöfen, Eisenschlacke und Befunde wie mutmaßliche Hauspodien und Eisenschlackehalden.

Im Hochmittelalter wurden durch Bevölkerungszuwächse, Ausweitung der Agrarflächen, Rohstoffgewinnung und Klimaoptimum neue Siedlungen angelegt. Im Spätmittelalter aber viele wieder aufgegeben (Klimaverschlechterung, Bevölkerungsrückgang durch Seuchen, Siedlungskonzentration, Raubau an der Natur usw.).

Wer nun Interesse an meinen kurzen und oberflächlich gehaltenen Aussagen zur Geschichte Willingshains und seiner Umgebung gefunden hat, dem empfehle ich den Besuch des archäologischen Wanderwegs am Eisenberg. Dieser wurde 1993 von dem Archäologen Dr. Klaus Sippel aus Kassel-Lohfelden ins Leben gerufen. Ein zirka 6 km langer Wanderweg erschließt einige Zeugnisse aus der Vorgeschichte und dem Mittelalter bzw. der Neuzeit. Hierzu zählen Hügelgräber aus der Bronzezeit, die hoch- bis spätmittelalterliche Wüstung Holnstein mit Kirchenruine und Ackerterrassen, ein spätmittelalterliches Steinkreuz (“Sühnekreuz”) und, besonders eindrucksvoll, spätmittelalterliche bis neuzeitliche Relikte des Eisen- und Alaunbergbaues und der Weiterverarbeitung.

 

Steinkreuz bei der Wüstung Holnstein

Eisenbergbau am Eisenberg ist für das 15. und 16. Jahrhundert archivalisch nachgewiesen. Die Bergwerke gehörten zur Reichsabtei Hersfeld. Oberflächennahe Eisenerze wurden geschürft und in den Tälern verhüttet. Davon künden heute noch einige Pingenfelder (kreisrunde, einige Meter breite Gruben, wohl mit geringer Tiefe) am Süd- und Osthang des Eisenberges und, wie bereits im Zusammenhang mit dem Kisselbachtal erwähnt, Eisenverhüttungsanlagen. Da Ausgrabungen nicht erfolgten, ist über die Technik des Verhüttens (Rennofen oder frühe Hochofenverfahren unter Einsatz der Wasserkraft) noch keine Aussage möglich. Die Frage nach dem Beginn und Intensität dieses Gewerbes am Eisenberg ist auch (noch) nicht geklärt. Die neuzeitliche (16./17. Jahrhundert) Alaungewinnung am Eisenberg hinterließ mindestens zwei verstürzte Schächte unbekannter Tiefe mit mächtigen Ringhalden und ein mutmaßliches Laugenbecken. Alaunsalze fanden Verwendung in der Gerberei, Färberei und Papierherstellung. Differenzierte Aussagen hierzu sind wegen fehlender Ausgrabungen nicht möglich.

1999 neu vermörtelte Mauern der Kirchenruine der Wüstung Holnstein

Wer sich in die Materie einlesen möchte, dem empfehle ich folgende Publikationen:

(Für den Einstieg ist die jüngste Literatur am geeignetsten, da dort die neuesten Forschungsergebnisse veröffentlicht sind. Die Publikationen habe ich nach dem Erscheinungsdatum geordnet.)

W. Bremer, Aus der Vorzeit des Eisenberges. Mein Heimatland 6, 1923, 7ff. (Beilage zur Hersfelder Zeitung)

Fr. Holste, Die Bronzezeit im Nordmainischen Hessen (Berlin 1939).

Otto Uenze, Hirten und Salzsieder. Bronzezeit (Marburg/Lahn 1960).

Dirk Raetzel-Fabian, Die ersten Bauernkulturen. Jungsteinzeit in Nordhessen (Kassel 1988).

Fritz-Rudolf Herrmann/Albrecht Jockenhövel (Hrsg.), Die Vorgeschichte Hessens (Stuttgart 1990).

Gesine Weber, Händler, Krieger, Bronzegießer. Bronzezeit in Nordhessen (Kassel 1992).

Klaus Sippel, Hügelgräber, Bergwerksrelikte und die Wüstung Holnstein im östlichen Knüllvorland. Begleitheft zum Archäologischen Wanderweg am Eisenberg in der Gemeinde Neuenstein, Kreis Hersfeld-Rotenburg. Archäologische Denkmäler in Hessen 110 (Wiesbaden 1993).

Lutz Fiedler, Jäger und Sammler der Frühzeit. Alt- und Mittelsteinzeit in Nordhessen (Kassel 1997).

(c) 2000 Dirk Scheidemantel